Wind und Weh

 

Der neue Chef

Er löste im Juni Andreas ab, dessen Pläne für die Zukunft geschmiedet waren. Andreas war schon immer ein Lebenskünstler. Ein „Guesthouse“ im Norden von England wollte er führen, das war noch sein Traum. Die Vorbereitungen liefen schon. Bis es soweit war unterstützte er jedoch noch mit voller Kraft seine alte Abteilung. Als mein früherer Chef gab er mir immer wieder zu verstehen, dass er froh war, dass ich trotz meiner Krankheit noch diese zwei halben Tage hier arbeitete und es tat mir ehrlich gesagt wohl. Sein „Schön, dass du da bist“ klingt heute noch in meinen Ohren. Wipfli, der Neue, hat von unserem grössten Kunden zu unserer Firma rüber gewechselt. Mir vermittelte er eher das Bild eines „Bünzli“ mit Porsche und politischen Ambitionen. Als Verkaufsleiter und stellvertretender Bereichsleiter war er nicht viel im Büro anzutreffen und politisch engagiert eben. Oft war er für uns Assistentinnen schwerlich aufzufinden, was manchmal einiges an zusätzlicher Detektivarbeit erforderte. Die Koordination mit ihm erwies sich als schwierig. Wipfli sollte zweifellos unsere Verkaufsabteilung retten, die Geschäftsleitung legte grosses Vertrauen in ihn.

Mich wollte er gar nicht erst kennen lernen, obwohl ich als seine Assistentin direkt für ihn arbeitete und  Esther, die an 4 Tagen in der Woche anwesend war, so gut es ging unterstützte. Esther und ich teilten uns also eine 100 % Stelle im Verkaufssekretariat. Eigentlich spürte ich Wipfli‘s Ablehnung von Anfang an, ich sah nur keinen Grund dazu. Zufällig hörte ich ihn dann einmal mit Esther über mich sprechen, sozusagen direkt vor meinem Arbeitsplatz, nah genug um ungewollt alles mitzubekommen. Er fragte sie, warum ich denn nur zwei halbe Tage da sitze und nicht einen ganzen Tag an einem Stück. Auch wollte er von ihr wissen, was ich denn eigentlich genau hätte. Zurecht bat Sie ihn mich doch selber zu fragen. Ich meinerseits schaffte es nicht an ihn heranzukommen, und dass wir einmal etwas persönlich miteinander plaudern konnten war schlicht unvorstellbar. Sein Benehmen war verletzend, und ich bekam immer mehr das Gefühl, dass ich ihm ein Dorn im Auge war. Einmal, es war am arbeitsfreien Tag von Esther, rief er mehrere Male unmissverständlich nach ihrem Namen und ich sollte mich dann darauf melden. -Warum bloss konnte er mich nicht einfach direkt ansprechen?



Schlimme Gefühle

In der Abteilung waren die Jahresgespräche schon längst geplant. Es gab aber „wichtigere“ Geschäfte, die vorgezogen werden mussten. Klar, das verstehe ich. Es war schon Dezember und meine Weihnachtsferien standen vor der Tür. Alle Gespräche sollten eigentlich bis Mitte Dezember abgeschlossen sein, meines war das letzte. Nun, an meinem letzten Arbeitstag, am Freitag vor den Ferien, war mein Gespräch fällig, zum x-ten Mal verschoben, ich habe uns ein schönes Sitzungszimmer dafür reserviert. Pünktlich ermahnte ich den Chef, der gerade geschäftig an seinem Schreibtisch sass. Er vertröstete mich jedoch auf später, da er gerade noch Wichtigeres zu tun hatte. Hinterher kam er auf mich zu und teilte mir mit, er hätte gerade noch eine andere Besprechung mit seinem Vorgesetzten. Es kam mir vor, als ob er alles andere meinem Gespräch vorziehen würde. Aber kurz vor Mittag, sozusagen in letzter Minute vor Arbeitsschluss, ich war gerade noch mit abschliessenden Arbeiten des Weihnachtsversandes beschäftigt, stand er bedrohlich vor mir. Er hätte jetzt Zeit, mahnte er, ich wolle das Gespräch doch auch haben, oder nicht. Als ob ich diejenige wäre, die hier alles hinauszögerte. Also musste ich gleich meine Arbeit fallen lassen und ihm folgen.

Wipfli lotste mich nur gerade mal in das nächste Sitzungszimmer, das mit dem wohlklingenden Namen Café-Crème mehr versprach als es hergab. Der grosse Raum war kahl und ungemütlich. Im schwachen Licht, das durch die halbgeschlossenen Jalousien fiel, sassen wir verloren an einem riesigen Besprechungstisch und Wipfli zeigte sich unbeholfen. Er wollte unbedingt dass ich ihm beim Protokoll schreiben helfe, da er noch nicht viel Erfahrung mit diesem Formular hätte - obwohl meines das letzte aller Mitarbeitergespräche in der Abteilung war die er durchzuführen hatte. Oder gehörte diese Hiflosigkeit gar zu seiner Taktik? Die Stimmung war gedrückt. Schonungslos machte ich Wipfli deutlich, dass mein Arbeitspensum auf zwei halbe Tage aufgeteilt bleiben soll und übergab ihm die Unterlagen, die mir meine behandelnde Ärztin vom Universitätsspital für ihn mitgegeben hatte, als ich ihr von den Bedenken eventuell einen ganzen Tag am Stück arbeiten zu müssen erzählte. Alsdann wollte ich ihm Vorschläge unterbreiten, die für eine bessere Zusammenarbeit im Verkaufssekretariat mit meinem gezwungener Massen kleinen Pensum hilfreich sein konnten, denn ich kam nie unvorbereitet in ein Mitarbeitergespräch.

Aber da kam unbarmherzig die Ohrfeige. Zuerst lobte Wipfli zwar, man merke, dass ich viel Erfahrung hätte und auch immer wisse was zu tun sei. Kein Wunder nach zwölf Jahren in diesem Firmenbereich. Dann erklärte er mir unverblümt, dass er einen grossen Auftrag von der obersten Geschäftsleitung erhalten hätte. Er müsse die Verkaufsabteilung neu aufbauen, viele Leute einstellen und alles umorganisieren - aber ohne meine Mithilfe. Ich habe weiss Gott genug Umstrukturierungen miterlebt, um sagen zu können, dass wir schon ziemlich alles ausprobiert hatten, ich wusste hier doch Bescheid. Aber dass die Chefs das nicht wissen wundert mich eigentlich gar nicht - bei dem ständigen Personalwechsel in der Firma.

In meinen Ohren fing es an zu läuten. Wie von weit entfernt hörte ich seine Stimme sagen: „Ich habe ein schlechtes Gewissen, dich hier arbeiten zu lassen.“  Was ist das bloss für ein jämmerlicher Versuch mich loszuwerden! "Du musst mir halt kündigen" hörte ich mich nur antworten. Das wollte er aber nicht auf seine Schulter nehmen und meinte, dass wir dann schon irgendwo einen Platz für mich finden werden in diesem grossen Geschäftshaus. Aber in seiner Abteilung könne ich nicht mehr weiter arbeiten, das sei klar.

Im unangenehmen Dämmerlicht des riesigen Sitzungszimmers wurde mir plötzlich bewusst, dass man mich nicht mehr haben will, und mein Chef kann mir noch nicht einmal eine Lösung anbieten. Die Tränen schossen mir nur so in die Augen. Unter dem Vorwand mir die Nase zu putzen verschwand ich im Waschraum im Gang gegenüber. In Wirklichkeit war es mir Wind und Weh zu Mute, und ich wollte nur noch dieses sinnlose  Gespräch beenden. Auf keinen Fall wollte ich kampfunfähig neben dem Chef sitzen und heulen, nicht vor dem Wipfli! Falls er mich unbedingt woanders hinsetzen will, dann nur dort, wo ich auch meine Fähigkeiten einsetzen konnte, an einem mir bekannten Platz in unserem Bereich mit Mitarbeitenden die ich kenne, das hätte ich mir noch gewünscht, dass es schliesslich auch noch Sinn und Spass macht für mich. Die Vorstellung, einfach irgendwohin abgeschoben zu werden, machte mir jedoch grosse Angst. Es war einfach nur noch ein elendes Gefühl, so wie ich es noch nie erlebt hatte. Das Gespräch war beendet nachdem Wipfli mir erklärt hatte, dass er mit dem Personalchef sprechen wolle um eine andere Tätigkeit für mich zu finden. Er hätte ihn schon viel früher einmal deswegen angefragt, aber nie eine Antwort erhalten. Plötzlich ging es ihm nicht schnell genug: „Wir können ja dann nächste Woche nochmals darüber besprechen.“  Aber leider war ich nächste Woche in den Weihnachtsferien. Er hatte das in seinem Eifer schon wieder vergessen. „Dann werden wir im neuen Jahr gleich weiter machen.“ Er verabschiedete sich nicht einmal von mir, wünschte mir nicht schöne Festtage, wie es unter Arbeitskollegen üblich war. Sein Ziel hatte er ja schliesslich erreicht. Selber gab ich ihm dann meine Hand und bedankte mich für das Gespräch. Ich murmelte noch etwas von „Endlich nimmt sich einer dieser Sache an.“ - Oh, was habe ich da nur gesagt, was ich gar nicht sagen wollte, lieber wollte ich nämlich im Boden versinken! 

Das traurige Gefühl, wegen meiner Krankheit weggeworfen und nicht mehr gebraucht zu werden, liess mich einfach nicht mehr los. Hilflos wandte ich mich wieder meiner Arbeit zu, und als es an der Zeit war, mich von meinen ArbeitskollegInnen zu verabschieden und wie jedes Jahr schöne Weihnachten zu wünschen, schlich ich mich statt dessen wie ein geschlagener Hund durch den Hinterausgang aus dem Gebäude. Auf der Heimfahrt im Auto, konnte ich endlich meinen Gefühlen ihren Lauf lassen, sah kaum mehr aus den mit Tränen verschleierten Augen. Ich war der Ohnmacht nah. So eine soziale Ausgrenzung war das Schlimmste, was mir noch widerfahren konnte.

Die Weihnachtsferien waren durch meine Emotionen getrübt. Der erste Arbeitstag im neuen Jahr war katastrophal. Als ich auf meinem Arbeitstisch das Protokoll vom Gespräch liegen sah, welches ich ja noch unterschreiben sollte, brach ich in Tränen aus. Ich versuchte mich noch selber zu beruhigen. Eine liebe Arbeitskollegin riet mir jedoch heimzukehren. Ich war nicht mehr in der Lage zu arbeiten.




Arbeitsunfähig

Mein Hausarzt schrieb mich zwei Monate lang Krank. Ich nahm Beruhigungsmittel. In der Folge suchte ich mehrere Male die Sozialberatung der Firma auf und kam nach vielen langen Besprechungen zum Schluss, dass ich mich schweren Herzens von meiner Arbeitgeberin trennen musste. Ich brachte nicht mehr die Kraft auf, mich noch weiter zu rechtfertigen und zu Hoffen, denn in der Firma wurde inzwischen wegen den wirtschaftlich schlechten Zeiten ein Einstellstopp festgelegt. Eine neue Teilzeitstelle musste zu diesem Zeitpunkt also von der obersten Geschäftsleitung bewilligt werden, was für mich nicht gerade rosig aussah. Dem Wunsch des Personalchefs, endlich über meinen Schatten zu springen, konnte ich letzten Endes auch nicht entsprechen.

Meine Stimmung ist stabil, traurig, kraftvoll. Ich nutze die Zeit, um meine Krankengeschichte, die jetzt plötzlich wieder im Vordergrund steht, ein für alle mal niederzuschreiben. Ich muss mich von all diesem Ballast lösen, um einen neuen Weg einschlagen zu können, der mich heilen soll.





«Februar 2009»